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  • Auswahl aus “den mund von schlehen bitter”

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    Gedichte aus Teil I
    „die sterne der menschen sind zählbar“

     

    landschaft

    den mund von schlehen bitter

    letzte tage im sommer
    grün und gold
    noch nicht geneigt in die kühle hand des herbstes
    doch schon in rauch versponnen
    manchmal am späten tag
    wenn die tausendfaltigen hände der bäuerinnen
    fester die tücher um die schultern ziehn
    die männer mit den zerrissenen gesichtern
    öfter die hand von der sense nehmen und
    hinaufschaun
    wo nur mehr selten vögel zu sehn sind

    kleine müde friedhöfe
    sehr stille kirchen mit dächern aus schwarzem holz
    unter bäumen
    die dicht unter den kronen noch eingekerbte
    namen sehen lassen
    mit fremden jahreszahlen dahinter

    verlassene höfe mit geborstenen türen
    hinter denen gekachelte herde verfallen

    unter staub und spinnennetzen
    in denen welke blätter hängen
    vergoldete kreuze mit seltsamen Christussen
    eisernen
    marienbildnisse
    sehr vergessen

    in halboffnem schrank hölzerne löffel
    teile eines gebetbuchs braun und schweren geruches voll
    wenn man darin blättert findet man einen brief
    mit angestrengter hand geschrieben auf schweres papier:
    und so geh ich fort von hier und du brauchst nicht
    zu warten …

    gehen durch wilde gärten
    kniehoher farn
    äste von schwämmen bewachsen
    gestürzte steinerne frauen

    und dann auf schmalen wegen unter dem weißen licht der sonne
    laub vergangener jahre gold und rot
    kastanien

    verweilen unter sinkendem abend
    zunehmender wind und spät mit klammen fingern
    der versuch eines gebets

    wenn kein scheinen mehr hinter den bäumen ist fällt tau
    man hört noch pferde vorbeigehn
    dann beginne ich unter dem haselgesträuch zu trinken
    bald werde ich Gottes weiße frauen
    über die wiesen gehen sehn

    november l

    november
    in den grünen kleidern trägt man die frauen hin
    das schilf
    weht noch in ihren haaren
    von den dächern sehen die tauben zu und
    die gaskandelaber werden entzündet
    vor den türen der cafés geschieht entsetzliches
    und hinter den vorhängen wird es schon gelesen
    oder man weiß es längst
    jetzt brechen die männer vor den jungfrauen ins knie
    während in den kirchen die astern welken

    auf den schwarzen tafeln in den dämmerigen schulzimmern
    schreibt der tod seine gedichte
    es sind äußerst ruhige verse
    ganz weiße
    und niemand kann sie sich merken

    dann ist es zeit und die künstler
    beginnen sich zu betrinken
    es wird ungewöhnlich still
    die sterbenden soldaten
    hören zu weinen auf und endlich
    gehn die weißen schafe über die plätze der städte

    ein fenster wird geöffnet
    aufgerissen
    und jemand schreit nach Gott
    und wirklich
    es fällt ein lauwarmer regen

    november II

    november
    die kleinen mädchen färben sich die augen
    dunkelblau und spielen
    mit ihren brüsten
    in den kellertheatern sammeln sich die einsamen
    das stück gelangt nicht zur aufführung
    rum wird herumgereicht und
    die unversöhnlich liebenden knaben
    beißen sich in die hände
    dann beugen gläubige ihre rücken und lösen
    ihre schuhriemen
    sehr bedächtig
    andächtig
    auf den gassen zeigen die leute nach dem mond denn
    es steht eine große veränderung bevor
    die juden wissen es schon und die glocken
    setzen nach jedem schlag mit dem ton aus
    viele fahnen fallen auf halbmast und sogar
    die tulpen erinnern sich ihrer nächte in holland
    jetzt werden die flöten zerbrochen und die brote
    vor die menschen geworfen
    man kann sehen wie die höfe zusehends dunkel werden

    chaladar

    als ich in dich kam chaladar war eine stille
    ein weißgewandet kind verstreute blätter die
    welk und braun zerfielen
    die schwarzen türen deiner häuser standen offen
    zu spüren war ein rauchgeruch
    zerfetzt und müde aus den fenstern hingen deine
    toten fahnen
    ausgebleicht

    dann sah ich deine bäume chaladar sie brannten
    sie brannten still und hoch gen himmel der
    voll schwerer wilder sonne stand
    auf deinen plätzen chaladar gelagert fand ich männer
    die lagen da im rausche ohne hände
    aus deinen brunnen chaladar quoll schwarzes blut
    und ohne ende und ohne ende schien mir
    deine stille

    in deine kirche trat ich chaladar da waren
    keine altäre chaladar und auf den fliesen
    mit dem gesicht voll dunklen flecken knieten frauen
    und hatten ihre augen offen
    nie chaladar noch sah ich solche augen

    war niemand der sie wieder schloss
    wer reichte deinen männern wein
    wer trug das feuer ins geäst der bäume
    und als ich wiedersah das stumme kind
    lag es inmitten seiner welken blätter
    und hatte asche auf den lippen

    so fand ich chaladar dich vor und hinter mir
    fiel fürchterlich ins schloss dein tor mit schwerem riegel

    Gedichte aus Teil II
    „hinunter den Weg nach gomorrha“

    von den störchen israels

    im mandelförmigen mond von judea
    im kirschroten
    sahn wir uns gerne und
    sangen vom lattich uns vor der verliebten
    den zinnernen kannen der schreiber
    die schrieben nach uns mit den kielen der brüder
    dem blute der blaupelikane
    die schrieben im sommer die schrieben im winter
    und siegelten stets mit den ringen der witwen
    der witwen vom stolzen judea

    wir aber senkten die füße ins moor und
    verweilten im schilfe der träumer
    wir färbten die fittiche grün uns und golden
    den farben des meers und der sonne judeas
    und sangen die lieder der wartenden frauen

    sie sandten uns briefe sie schenkten uns ringe
    sie leerten die zinnernen kannen
    wir träumen dem mond zu
    der kirschroten mandel
    judea der pelikan starb

    nachtruf

    so bist du mein bleichendes kind nun
    wo über die treppen das blut rinnt
    wo finsterer rauch in die nacht steigt
    der mond hinter stacheldraht frierend versinkt
    in den gierigen wellen der zeit
    dort türmen sie auf unsre haare die waren
    der stolz der uralten verdammten nation
    dort gehst du ein träumender sklave im schlaf
    durch den buchenwald meines gebeins
    sie schlachteten all deine schwestern dahin
    auf den steinigen feldwegen sanken sie nieder
    die brüder sie wurden zu asche wie ich —
    wann nur wann sehn wir uns wieder

    requiem

    im rauch der verbrannten geht er zu den dornen
    die hände voll goldener zähne
    sein zeichen von zion ist müde vom warten
    er trägt es am kleid seiner tage
    die liegen im regen den darf er nicht trinken
    sein wein ist das blut der verbrannten

    noch sammelt er steine sie sind seine speise
    sein bett seine herzlosen brüder sie singen
    sie singen ihm jedem das seine

    sein traum liegt im sterben vor offenen toren
    es bluten die buchen für ihn

    die türme der wächter im rauch der verbrannten
    verkommen in einem gelächter

    es wissen die hunde vom rausch ihrer herren
    sie zerren an ihrem gekoppel
    sie trinken allabendlich blutwarme stimmen sie
    kennen die glimmenden öfen bei glut
    und zu gut nur den pfiff ihrer zähmer

    die sieger im rausche sind hünen von norden
    sie tragen den blutigen orden
    sie prüfen die peitschen beim pfeifen der adler
    und schleifen dahin wen sie greifen

    sie nehmen die goldenen zähne hinweg
    und sie streun sie den hunden aufs lager
    sie hetzen ein mageres mädchen und lachen
    und singen ihm jedem das seine

    so lodern die buchen im rauch der verbrannten
    gehisst ward der wimpel des adlers
    der pfeift von den türmen schon nieder der lauert
    er ist ein gesandter des todes

    und hebt nun der hüne die hand auf zum galgen
    so grüßt er ihn jedem das seine
    ach schlafet ihr armen gebeine verbrannte
    ihr weinenden buchen auch ihr
    ach betet ihr blutigen dornen es nannte
    euch niemand die zahl noch der toten

    Gedichte aus Teil III
    „inmitten vermummter Engel“

    beim tod einer blume

    so brich den dorn und nenn die rose eitel
    nimm ihn in dich dann jagt er durch die adern
    dann fließt er mit dem blut hin in den silberkelch
    dann ist er dein für heut und morgen
    dann bist du bald wie er und unverletzlich
    dann reicht man dich von ohr zu ohr bei frommen
    sieht nach dir hin als einen den man ahnt
    von mund zu mund wirst du gesprochen und
    von aug zu aug gesehn und was du lebst
    das zahlt dir nun die rose sterbend heim

    über künftiges schreiben

    die stunde der schlehe war bitter und tief
    so schreib ich zu sommern mein herz in den winter
    ein eisblumenpflücker mit silbernen händen
    die späten sonette

    kristallenen stillen vertraut als ein horcher
    belausch ich das schlagende herz der welt und
    die schritte des kommenden dunkels und schreibe
    ein ahnender mehr als ein weiser
    die späten sonette

    von keiner lippe werden gehn zu niemands ohr
    die unsagbaren
    zu schweigen nur bestimmten die beladnen
    verwehrten späten sonette

    geduldig will ich sein der mund von schlehen bitter
    stundentief
    ersommern werden einst mit mir die späten
    zu späten sonette

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